Expressionismus: Lyrik und Theater

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Kaum eine andere literarische Strömung ist so intensiv erforscht wie der Expressionismus. Expressionismus und Lyrik sind untrennbare Elemente, die einfach zusammengehören. Anders verhält es sich jedoch mit dem Theater im Expressionismus.

Besonderheit der Zeit: Aufbrüche, Akzeleration und Bruch mit dem Gewohnten

Eine Vielzahl der literarischen Strömungen, die zeitlich zum Ende des 19. Jahrhunderts bzw. zu Anfang des 20. Jahrhunderts verortet werden können, sind von der Zeit geprägt. In der Forschung wird diese Epoche oftmals auch der Aufbruch in die Moderne genannt. Das liegt vor allem an den unzähligen Umwälzungen, die sowohl die Gesellschaft als auch den Alltag der Menschen prägte. Die industrielle Revolution, welche in Deutschland deutlich später einsetzte als in Großbritannien oder Frankreich, hatte zur Folge, dass eine Vielzahl ungelernter Menschen vom Land in die Städte strömte, um Arbeit zu finden. Die zunehmende Verstädterung resultierte auch in einer vermehrten Verelendung der Menschen: Immer weniger Wohnraum stand für die Menschen zur Verfügung, die aufgrund der hohen Dichte an potenziellen Arbeitern immer weniger verdienten.

Die Industrialisierung hatte nicht nur demografische und soziale Folgen, sie verdeutlicht darüber hinaus auch die zunehmende Technisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Man denke hierbei an Henry Fords bewegliches Montageband, jene technische Neuerung, die den Produktionsprozess revolutionierte. Doch diese Innovationen waren nicht nur im industriellen Sektor zu finden, sie bestimmten auch verstärkt das tägliche Leben der Bevölkerung. Als Fortbewegungsmittel setzten sich das Automobil und die Straßenbahn gegen die Pferdekutsche durch, die Verkehrstechnik erfuhr also ebenfalls eine gravierende Umwälzung. Kurzum: Der Alltag veränderte sich im wahrsten Sinne des Wortes rasant.

 

Eine Vielzahl der literarischen Strömungen, die zeitlich zum Ende des 19. Jahrhunderts bzw. zu Anfang des 20. Jahrhunderts verortet werden können, sind von der Zeit geprägt. (#01)

Eine Vielzahl der literarischen Strömungen, die zeitlich zum Ende des 19. Jahrhunderts bzw. zu Anfang des 20. Jahrhunderts verortet werden können, sind von der Zeit geprägt. (#01)

Die Schnelllebigkeit des Alltages vs. starre Strukturen des Wilhelmismus

Darüber hinaus fand ebenfalls im Bereich der Unterhaltungsindustrie und der Medienwelt eine technische Revolution statt. Das bewegte Bild des Kinos, das täglich erscheinende Massenmedium Zeitung und das Radio sind nur einige Beispiele für die technischen Neuerungen des Alltags, mit denen eine immer stärkere Akzeleration des gesamten Lebens einherging. Die zivilisatorische Moderne war jedoch nicht nur von technischen, demografischen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, sondern auch von starren Strukturen, welche gerade durch ihre Inflexibilität hervorstechen. Insbesondere die traditionellen, politischen und kollektiven Werte des wilhelminischen Deutschlands sollen in diesem Zusammenhang Erwähnung finden.

Verstärkter Nationalismus, Imperialismus und Militarismus waren die Ideale des Kaiserreichs. Dessen tragende Schicht stellte das Bürgertum dar und hier kommt auch die Strömung des literarischen Expressionismus ins Spiel: Gegen diese tragende Gesellschaftsschicht wendeten sich der Expressionismus und vor allem die jungen Künstler und Literaten. Das expressionistische Jahrzehnt ist auch im Hinblick auf das politische System eine Zeit des intensiven Umschwungs: Erster Weltkrieg, Versailler Vertrag und Weimarer Republik kennzeichnen die Zeit. Der Expressionismus ist eine Reaktion auf diesen beschriebenen, vielschichtigen Wandel in der Gesellschaft, Politik und dem alltäglichen Leben. Es wird auf die Jahre zwischen 1910 und 1925 datiert.

Video:Was ist eigentlich… Der EXPRESSIONISMUS

Besonderheiten des literarischen Expressionismus

Die Strömung des Expressionismus kann also als eine literarische Reaktion auf die genannten Veränderungen beschrieben werden. Dass einhergehend mit einem Umbruch in der Gesellschaft auch ein Umbruch im Stil einherging, ist nicht zu verdenken. Dies machte sich vor allem in der Lyrik im Expressionismus bemerkbar. Generell ist die Gattung der Lyrik die vorherrschende Form im Expressionismus. Gerade Poetik komprimiert die Sprache auf die wesentlichen Bestandteile – eine wichtige Eigenschaft, die in der schnelllebigen Epoche besonders von Bedeutung war. Trotz der Konzentration auf Lyrik kann kein einheitlicher Stil oder gar ästhetische Grundprinzipien festgelegt werden, denn jeder Literat verarbeitete die äußeren Einwirkungen in seinen Werken auf seine ganz individuelle Art und Weise.

Dieser Unterschied macht es schwer, die Literatur im Expressionismus zu gliedern oder noch einmal intern zu unterteilen (sog. Binnengliederung). Kann die Klassik oder die Romantik ganz einfach in verschiedene Subkategorien und -strömungen unterteilt werden, so ist das im Expressionismus deutlich schwerer. Aufgrund seiner Vielfältigkeit kann die literarische Strömung des Expressionismus nur schwer segmentiert werden, wobei jedoch ein gewichtiges Kennzeichen auffällt: Der Expressionismus und die Lyrik – das ist ein untrennbares Duo! Doch was macht die Expressionismus Lyrik eigentlich so besonders? Es können einige Stilmittel genannt werden, die sich trotz der unterschiedlichen Werke und der verschiedenen Themen immer wieder finden.

Video:Die Epoche des Expressionismus – Ein Lehrfilm

Expressionismus Lyrik: Themen und Motive

Ein immer wieder auftretendes Motiv in der Literatur des Expressionismus – auch im Theater – ist die sogenannte Ich-Dissoziation. Sie bezeichnet den Zerfall des eigenen Ichs, hervorgerufen durch verschiedene äußere Einflüsse. Diese Ich-Dissoziation ist einerseits durch eine unruhige und sich ständig verändernde Umwelt geprägt. Andererseits wird sie auch durch den Menschen selbst hervorgerufen, der immer zerstreuter wird und sich in der rasch verändernden Welt mit Kriegen, Verelendung und Verstädterung nicht mehr zurecht findet. Insbesondere die Großstadt versinnbildlicht die fortschreitende Technisierung, den gesellschaftlichen Wandel und die zunehmende Verschnellerung in allen Lebensbereichen des Menschen.

Dieser sich stetig umformende Lebensraum beeinflusst das moderne Individuum. Es kann sich zwangsläufig den äußeren Einflüssen seiner Umgebung nicht mehr entziehen. Außerdem wird es fremdbestimmt, reizüberflutet und darüber hinaus zu einem Ding gemacht. Themenkomplexe wie die Großstadt, der Verlust der Kontrolle über das eigene Leben sowie Machtlosigkeit kennzeichnen die Lyrik des Expressionismus. Allgemein sind die Gedichte von Gottfried Benn, Georg Heym und weiteren bekannten Autoren von einer düsteren Stimmung gekennzeichnet, die scheinbar die gesamte Lyrik des Expressionismus kennzeichnet. Nur selten erweckt ein Werk positive Gefühle – wenn dies der Fall ist, dann oftmals in grausigen Zusammenhängen: Prostitution, Krankheit oder Verfall werden euphorisch gefeiert.

Video:Der Deutsche Expressionismus – Doku

Stilistische Kennzeichen der Lyrik im Expressionismus

Stilistische Besonderheiten gibt es in der Expressionismus Lyrik viele. So ist es vor allem von großer Bedeutung, dass die Verse in Gedichten auf das Notwendigste reduziert werden. Das heißt konkret: Blumige Reime und unnötige Längen werden gestrichen. Kurze Hauptsätze (Parataxen) kennzeichnen das Bild der Gedichte. Auf Reime wird oftmals verzichtet, die Sprache wird also abstrahiert. Das kann mehrere Gründe haben, die in der Forschung plausibel aufgearbeitet werden: Durch den reduzierten Stil können zum einen viele Eindrücke schnell und unmittelbar wiedergegeben werden, was die Schnelllebigkeit auch im Stil verdeutlicht. Die Verknüpfung scheinbar unzusammenhängender Elemente in lyrischen Werken gibt außerdem die Reizüberflutung wieder, der sich das moderne Individuum in seinem täglichen Umfeld stellen muss.

Neben der Verknappung der Sprache durch kurze Sätze und die Reihung verschiedener (elliptischer) Elemente weist die Lyrik des Expressionismus eine weitere Besonderheit auf, die an dieser Stelle ebenfalls stellvertretend für die Vielzahl ästhetischer Merkmale thematisiert werden soll. Während die elliptische Form des Reihungsstils die offene Struktur eines Gedichts forciert, unterstreicht das expressionistische Sonett eine streng geschlossene Form. Viele literarische Gedichte wurden in der traditionellen Sonettform geschrieben. Diese strenge Form, die zwei Vierzeiler und zwei Dreizeiler kombiniert, stellte einen Kontrast zur chaotischen Welt dar, in der sich die Autoren befanden. Oftmals werden besonders aufwühlende Inhalte im Sonett dargestellt – das ist ein geradezu ironischer Kontrast, der unterstreicht, wie chaotisch die Welt aus der Sicht der Literaten wirklich war.

Video: Georg Heym „Die Stadt“

Expressionismus Literatur: Georg Heyms Die Stadt

Ein literarisches Beispiel, welches alle genannten Besonderheiten aufweist, ist das Gedicht Die Stadt von Georg Heym. Mit vier Versen mit zweimal vier und zweimal drei Versen handelt es sich bei diesem lyrischen Werk um ein Sonett. Doch gerade der äußerst aufwühlende und nicht gerade beglückende Inhalt steht im Kontrast zur äußeren Form des Gedichts. Eine Vielzahl von negativ belegten Begriffen kennzeichnet das Gedicht: „Lallen der Wehen“, „Tod“, „Einlerlei“ und „Brand“ zeigt bereits mit nur vier Worten, wie destruktiv und düster die Stimmung im Gedicht ist.

Besonders einprägsam ist nicht nur der Kontrast von Form und Inhalt, sondern auch die häufige Verwendung von Farbadjektiven: „rot“ und „dunkel“ sind Beispiele dafür. Gerade Farben nahmen in der Literatur des Expressionismus eine wesentliche Rolle ein. Mit ihnen nicht nur die Sinneseindrücke der Optik, sondern auch die des Schmeckens, Riechens, Fühlens und Hörens. Oftmals bedienten sich die Autoren dem Stilmittel der Synästhesie. „Ich schmecke blau“ ist beispielsweise ein Beispiel dafür – verschiedene Eindrücke der Sinne werden gemischt, was auf den ersten Blick befremdlich aussieht. Aber auch das passt wieder ins Gesamtkonzept: Die Individuen sind so überwältigt von den Neuerungen der Welt, dass die Sinne scheinbar nicht hinterherkommen, alles zu verarbeiten.

Video:Gesamtkunstwerk Expressionismus. Kunst, Film, Literatur, Theater Tanz und Architektur 1905-1925

Theater im Expressionismus

Wie bereits dargelegt, war die literarische Gattung, die den Expressionismus am gewaltigsten kennzeichnete die Lyrik. Diese konnte mit ihrer knappen Form die Eindrücke der Expressionisten offenbar am besten darstellen. Dennoch gibt es auch einige Theaterstücke, die im Expressionismus ihre Wurzeln haben. Eines der bekanntesten Stücke ist das Lustspiel Die Hose von Carl Sternheim, das im Jahr 1911 erschien. Sternheim orientierte sich dabei nicht an gängigen Vorgaben für das Drama, sondern erschuf ein bürgerliches Lustspiel, das durchaus zur Erheiterung der Gemüter beitrug. Erst in der späten Phase des Expressionismus, die mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ab 1918 einherging, entwickelte sich das sogenannte Stationendrama.

Wie auch die Lyrik mit den gängigen Konventionen brach und eine ganz eigene formale Gestaltung übernahm, orientierte sich auch das expressionistische Drama an einer neuen Form. Gerade das Stationendrama war eine Möglichkeit, um mit dem traditionellen Aufbau eines Dramas in fünf Akten zu brechen. Weder steigende noch fallenden Handlung sowie die bekannten drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung wurden eingehalten. Vielmehr verläuft die Handlung im Stationendrama scheinbar ungeordnet und besteht aus einzelnen, unverbundenen Elementen – diese Art des Dramas macht seinem Namen also alle Ehre. Das bekannte ungefilterte Prinzip der Lyrik wurde durch das Stationendrama also auch auf das Drama im Expressionismus übertragen.

Video:Masse Mensch | Das Theaterprojekt

Wandlung im expressionistischen Drama

Gerade gegen Ende des Expressionismus, als die Bedeutung des messianischen, des neuen Menschen und der Utopie immer mehr zunahm, drehten sich viele Dramen um den Wandlungsprozess des Menschen. Ein Beispiel hierfür ist Ernst Tollers Drama aus dem Jahr 1919 mit dem programmatischen Namen Die Wandlung. Gerade nach den traumatischen Erlebnissen, die viele Autoren als Soldaten und Ärzte im Ersten Weltkrieg mitmachen, änderten sich die Themen der Literatur und mit ihnen auch das Theater. Das sogenannte Verkündigungsdrama ist neben dem Stationendrama der Schwerpunkt des Theaters in der Strömung des literarischen Expressionismus. Gerade diese Form des Dramas entwickelte sich nach dem Krieg. Der messianische Charakter der Handlung gibt dem Verkündigungsdrama seinen Namen.

Auch wenn die Expressionismus Lyrik wesentlich präsenter ist und auch eine viel größere Anzahl an lyrischen Werken erschien, so gibt es dennoch neben Die Hose und Die Wandlung weitere Dramen, die belegen, dass es eine – wenn auch sehr beschauliche – Theaterszene im Expressionismus gab:

  • Erst Toller: Masse Mensch (1920)
  • Walter Hasenclever: Der Sohn (1914)
  • Bertolt Brecht: Baal (1919)

Video:Bertolt Brecht – Baal

Expressionismus Lyrik im Theater

Ganz klar müssen die Gattungen Poesie und Drama voneinander abgegrenzt werden. So ist es kaum bis gar nicht möglich, im expressionistischen Theater bestimmte lyrische Bestandteile zu finden. Die Stilmittel der expressionistischen Lyrik, so die knappe Form, die vielen Adjektive, Synästhesie und Sonettform sind einzigartig und können nur im Geschriebenen verwirklicht werden. Das Drama hingegen, das auf der Bühne vorgeführt werden soll, arbeitet mit anderen stilistischen Besonderheiten.

Eine Komponente, die jedoch sowohl in der Lyrik als auch im Drama zu finden ist, ist die inhaltliche Fokussierung: Eine düstere bis übertrieben euphorische Stimmung, die Auseinandersetzung mit der modernen Welt und einschneidenden Erlebnissen wie dem Krieg, ist beiden literarischen Gattungen gemein. Als eine der best erforschten lyrischen Strömungen ist der Expressionismus in jedem Fall einen Blick wert. Es gibt eine Vielzahl an Analysen, die aufzeigen, wie interessant sich die literarischen Werke dieser avantgardistischen Strömung zeigen – sowohl Gedichte als auch Theaterstücke.


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